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Eine kurze Geschichte der Cyanotypie

Unter «Cyanotypie» versteht man ein altes Fotografieverfahren, welches sich grundsätzlich von herkömmlichen Fotgrafietechniken unterscheidet. Da man dafür weder Dunkelkammer noch eine Kamera benötigt, ist die Technik relativ «einfach» umzusetzen und wieder vermehrt im Trend. Zudem weist sie eine interessante Entstehungsgeschichte auf.

Wie es zur Cyanotypie kam, wer sie erfunden hat und welche Besonderheiten die Fototechnik aufweist, das könnt ihr in folgendem Kapitel des neuen Buches «Blaue Wunder» von Marlis Maehrle nachlesen:


EINE KURZE GESCHICHTE DER CYANOTYPIE

Die Cyanotypie (auch Eisenblaudruck, Sunprint, Shadowgraph, Blueprint) ist eines der ältesten fotografischen Verfahren, entstanden im Jahr 1842, als der britische Universalgelehrte (Astronom, Chemiker, Mathematiker, Botaniker und Erfinder) Sir John Herschel die Lichtempfindlichkeit von Eisensalzen entdeckte.

Eine Cyanotypie entsteht nicht mit einer Kamera, sondern als Kontaktkopie: entweder als Fotogramm, indem opake oder durchscheinende Gegenstände auf das sensibilisierte Papier gelegt und samt ihren Schatten als Negativ abgebildet werden. Oder von einem aufgelegten, durchscheinenden Negativ, das 1:1 als ein blau-weißes Positiv wiedergegeben wird. Diese Art »handgemachter« Fotografie hat eine ganz besondere Ausstrahlung – zumindest in unserer Zeit. Damals wurde der intensive Blauton der Bilder jedoch für die (üblicherweise bräunlich getönten) Fotografien von Porträts und Landschaften als wenig geeignet angesehen. Dagegen erlebte die Cyanotypie ab den 1870er-Jahren bis etwa 1950 weltweit ihre größte Verbreitung als Vervielfältigungsmöglichkeit für Architekturpläne und technische Konstruktionszeichnungen. Bei diesem Negativverfahren erscheinen die auf Transparentpapier gezeichneten schwarzen Linien in der »Kopie« in Weiß auf blauem Grund. Nach der ursprünglichen Belichtung mit Sonnenlicht wurden bereits um 1895 elektrische Belichtungsapparate eingeführt. Und heute noch steht der Begriff »Blaupause« für Bauplan, Konstruktionszeichnung, Modellvorschlag – auch im übertragenen Sinne.

©Marlis Maehrle – Blaupause des Konstruktionsplans eines Sportwagens von Bentley aus dem Jahr 1930

Dass die im 19. Jahrhundert als fotografische Kunstform so sehr unterschätzte (und ignorierte) Cyanotypie nicht in Vergessenheit geriet, verdanken wir Anna Atkins. 1799 als Anna Children geboren, führte sie – für eine Frau im 19. Jahrhundert – ein durchaus ungewöhnliches Leben. Da ihre Mutter Hester im Alter von 23 Jahren nur wenige Monate nach Annas Geburt starb, wuchs Anna als einziges Kind in enger Beziehung zu ihrem Vater John Children auf, einem angesehenen Chemiker und Biologen. Im Gegensatz zu der zur damaligen Zeit einem Mädchen zugedachten Erziehung förderte John Children Annas wissenschaftliche Ausbildung. Sie erforschten und studierten gemeinsam Pflanzen, Insekten, Algen, Physik, Latein … – und mit 20 Jahren war Anna eine ausgebildete Botanikerin. Sie sammelte und zeichnete Pflanzen aus aller Welt und legte Herbarien an. Aufgrund ihrer zeichnerischen Begabung wurde sie zur Mitarbeiterin an dem großen Buchprojekt »Lamarck’s Genera of Shells«, das der Vater aus dem Französischen übersetzte und für das die 24-jährige Anna mehr als 250 detaillierte Zeichnungen von Muscheln anfertigte, die als Vorlagen für die Gravur der Druckplatten dienten. 1825 heiratete Anna John Atkins, der ihre wissenschaftlichen Interessen unterstützte und – ebenso wie ihr Vater – mit dem Fotopionier William Henry Fox Talbot befreundet war. Talbot experimentierte ab 1835 mit Papier, das er mit verschiedenen lichtempfindlichen Chemikalien bestrich, »um Bilder festzuhalten«.

©Marlis Maehrle

©Marlis Maehrle

©Marlis Maehrle

©Marlis Maehrle

©Marlis Maehrle

Kurz nach der Daguerrotypie entstand auf diese Weise ein neues fotografisches Verfahren, mit Negativ und Positiv. Der Kreis gegenseitiger Inspiration schloss sich durch die Freundschaft Talbots mit John Herschel. Denn dieser entwickelte die Fixierung, die den Abschluss des fotografischen Prozesses ermöglichte und das Verblassen der Bilder verhinderte. Anna Atkins wurde 1839 in die Royal Botanic Society in London aufgenommen. 1841 bestellte ihr Vater eine Kamera für sie, nachdem Talbot in der »Royal Society of London (for improving Natural Knowledge)« über seine fotografischen Experimente berichtet hatte. Anna und ihr inzwischen pensionierter Vater beschäftigten sich voller Begeisterung mit der Fotografie – Anna Atkins und Constance Talbot gingen als die ersten Fotografinnen in die Geschichte ein.

Der Austausch unter den viktorianischen Wissenschaftlern war intensiv – und so erfuhren Anna und ihr Vater im Jahr 1842 auch sehr schnell von der Cyanotypie, die ihr experimentierfreudiger Freund John Herschel soeben erfunden hatte. Das Besondere an diesem Verfahren war, dass die Cyanotypie nur mit Wasser entwickelt und fixiert wurde, aber trotzdem lichtecht blieb. Herschel sah dieses einfache Verfahren als hauptsächlich dafür geeignet an, seine Notizen zu vervielfältigen und als »Fotokopien« an befreundete Forscher schicken zu können. Für Anna Atkins jedoch eröffneten sich mit Herschels Entdeckung ganz neue Möglichkeiten, um ihre Sammlungen und Forschungen anderen Wissenschaftlern zugänglich zu machen, denn bis zu diesem Zeitpunkt konnten Herbarien nicht vervielfältigt werden. Allein Anna Atkins’ Sammlung von Algen umfasste mehr als 1500 Spezies – sie alle detailliert zu zeichnen wäre niemals zu schaffen gewesen. Mit der Cyanotypie konnten gepresste Pflanzen nun sehr einfach mithilfe einer Glasplatte als Kontaktkopie reproduziert werden. Feinste Einzelheiten waren in Originalgröße sichtbar und auch durchscheinende Pflanzenteile wurden verblüffend natürlich abgebildet.

©Photographs of British Algae, New York Public Library, Digital Collections

1843 war Annas erstes handgemachtes Buch »Photographs of British Algae – Cyanotype Impressions« mit etwa 400 ganzseitigen Abbildungen fertig. Und es folgten weitere, um in mehreren Bänden die komplette Sammlung abzubilden. Über zehn Jahre lang belichtete Anna Atkins mehr als 2000 Fotogramme (und das nur an englischen Sonnentagen!). Nach dem Tod ihres Vaters im Jahr 1852 arbeitete sie mit ihrer Freundin Anne Dixon zusammen an neuen Cyanotypien: 1853 erschien »Cyanotypes of British and Foreign Ferns«, 1854 »Cyanotypes of British and Foreign Flowering Plants and Ferns«. Vor allem die Farne und Mohnblumen aus diesen Büchern sind weltberühmt geworden. Hätten die Cyanotypien von Anna Atkins nur rein wissenschaftlichen Wert, wären sie vermutlich heute nicht mehr so bekannt und geschätzt. Aber die ganz bewusst gestalteten Seiten ergeben in ihrer Vielfalt ein wunderbar poetisches Bild der Pflanzenwelt – eine Magie, zu der die Farbe Blau nicht wenig beiträgt. Schon ab 1870 bis etwa 1930 gab es fertig sensibilisiertes Papier für Fotoamateure zu kaufen, besonders beliebt waren Postkarten zum Selbstbelichten. Für künstlerische und spielerische Zwecke wurde die Cyanotypie dann wieder in neuerer Zeit eingesetzt: In der englischsprachigen Welt entstand in den 1980er-Jahren die unter dem Begriff »Alternative Photography« zusammengefasste Bewegung, die nicht silberbasierte historische Verfahren wie Bromöldruck, Salzdruck, Platindruck etc. mit neuer Technologie (heute zum Beispiel der digitalen Erstellung von Negativen) verknüpfte. Von allen diesen sogenannten fotografischen Edeldruckverfahren ist die Cyanotypie am einfachsten anzuwenden und die verwendeten Chemikalien sind am harmlosesten.

©Marlis Maehrle

©Marlis Maehrle


Weitere Informationen in Bezug auf die Umsetzung (Material, Chemikalien etc.) wie auch vielerlei Beispiele und Einblicke finden sich im neuen Buch von Marlis Maehrle «Blaue Wunder», das diesen Herbst im Haupt Verlag erschienen ist.


©Takeshi Nagao


Marlis Maehrle

Marlis Maehrle liebt Papier, Bücher und handgemachte Dinge. Sie lebt in der Südheide und arbeitet als freie Buchgestalterin für Verlage. Seit 1995 gibt sie Kurse zu Papier & Buch in den USA und in Deutschland und sie hatte die Ehre, drei Monate als Artist-in-Residence in einem Papierdorf in Japan zu verbringen.

 Buchcover